In den zwei vorigen Beiträgen hatte ich begonnen, die Ansichten der avantgardistischen Künstler bekannt zu machen. Erst hatte ich Marinetti zu Wort kommen lassen, dann einige andere Künstler, die im selben Geiste wie er dachten. Die Zitate, die ich brachte, deckten die Jahre 1909-1916. In diesem Beitrag werde ich einige ihrer Aussagen der Jahre 1916-1918 präsentieren.
DADA oder die Gewalt als Grundmodus
1916 entstand die Dada-Bewegung. Die Legende sagt, dass die Gründer ihre Bewegung „dada“ nannten, weil sie zufällig auf dieses Wort im französischen Wörterbuch fielen. Es bedeutet Hottepferd. Laut einer anderen Legende wählten sie dieses Wort, weil es auf rumänisch „ja, ja“ heißt. Dieser Name hat also keinen Sinn – und das ist der Sinn: keinen Sinn zu haben.
Aber die Dadaisten waren nicht nur absolute Feinde der Ratio. Sie waren auch Feinde der Gesellschaft, in der sie lebten. Die Dada-Bewegung schraubte die Gewalttätigkeit ihrer Aussagen um einiges höher als die Futuristen. Hier schon einmal eine erste Kostprobe:
• Der Mitbegründer der Dada-Bewegung, der rumänische Schriftsteller Tristan Tzara schrieb 1916 folgende Absichtserklärung. Er adressierte sich im Befehlston – „sieh mich an“ – an den „netten Bourgeois“:
… wir, (die Dadaisten), … spucken auf die Menschheit. DADA bleibt im europäischen Rahmen der Schwächen, es ist aber trotzdem Scheiße, aber von nun an wollen wir verschiedenfarbig scheißen, um den zoologischen Garten der Kunst mit allen Konsulatsfahnen zu zieren.
Tristan Tzara: „Manifest des Herren Antipyrine“
(***Diese Übersetzung und folgende stammen aus dem Sammelband Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), herausgegeben von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders.)
Der Anspruch der Avantgarde, die „Welt zu regieren“
• Die Avantgardisten V. Chlebnikov und G. Petnikov deklarierten 1917 (auch im Namen von Vladimir Majakovskij und Maxim Gorki), dass sie die „Weichensteller an den Scheidewegen von Vergangenheit und Zukunft“ seien. Sie wären wie der „Denker, der ruhig die Zügel des Weltalls“ hält. Ihr Fazit ist lapidar:
Nur wir sind die Regierung des Erdballs. Das ist auch weiter nicht erstaunlich. Daran wird niemand zweifeln. Wir sind die Unbestreitbaren, und in dieser Würde sind wir anerkannt von jedermann. (…) Nach dem Recht des Vorgangs und kraft des Eroberungsrechts sind WIR die Regierung des Erdballs. Wir und sonst niemand.
Quelle: „Aufruf der Vorsitzenden des Erdballs“
Es kann nicht gesagt werden, dass die russischen revolutionären Künstler kein Selbstbewusstsein gehabt hätten. Allerdings fußte dieses Selbstbewusstsein allein auf ihrer Einbildung, denn niemand hatte ihnen die Rolle der „Regierung der Welt“ erteilt.
Der avantgardistische Übermensch
• Der französisch-deutsche expressionistische und danach surrealistische Dichter Ivan Goll betrachtete seine „Arbeit“ als Dichter als einen „Kampf“: „Vor allem … Kampf gegen dich selbst: gegen die lastende Erbschaft, die du in dir trägst.“ — Wieso?, fragt man sich. Warum bekämpft sich Goll selber?
Einfach: Grund ist der Selbsthass des kleinbürgerlichen Intellektuellen, der sich der revolutionären Causa verschrieben hat, der aber genau weiß, dass er kein „Proletarier“ ist. Er weiss, dass er das bleibt, was er ist: ein Bourgeois, der sich als Avantgardist verkleidet. Dasselbe gilt für die heutigen „Progressisten“, die ebenfalls sehr genau wissen, dass sie weder Opfer sind, noch „diskriminiert“, sondern Wohlstandsbürger, die (noch) in Freiheit leben.
Als Folge eines ähnlichen Größenwahns wie V. Chlebnikov und G. Petnikov, die angaben, die „Regierung des Erdballs“ zu sein, bot Goll 1917 dem „Volk“ seinen unschätzbaren „Liebesdienst“ an:
Kunst wird heute zur sozialen Liebestätigkeit. Darum, Künstler, tritt ins Volk und zeige ihm dein großes Herz. (…) … du, Dichter … komm mit Sturm. … wirf den Blitz des Geistes in die Menge. (…) Künstler, … tritt mit deinen Flügeln ins dumpfe, arme Volk.
Quelle: „Appell an die Kunst“
Ivan Golls Liebe zum „dummen, armen Volk“ drückte sich allerdings in „Tritten“ aus. Seine angebliche Liebe ist natürlich absolute Verachtung und sogar Hass. Diese Einstellung ist allen revolutionären Übermenschen gemeinsam. Die Avantgardisten bildeten keine Ausnahme. Zum Beispiel Tristan Tzara.
Ziel Nr. 1: die Zerstörung der normalen Gesellschaft
• Von ähnlichen Gefühlen angetrieben wie Goll schrieb Tristan Tzara 1918 folgende brutale Absichtserklärung:
Ich sage Euch: … Wir (…) bereiten das große Schauspiel des Unterganges vor, den Brand, die Zersetzung. (…) … von einem Kontinent zum anderen. (…) Ich zerstöre die Gehirnschubkästen und die der sozialen Organisation: überall demoralisieren.
Tristan Tzara: „Manifest Dada 1918“

Tzara verband die Moral des Übermenschen mit dem Relativismus des späten Nietzsche. Insofern antizipierte auch er ein Thema der Postmoderne. Für ihn sei „das Gesetz, die Moral und alle anderen schönen Dinge“ gleichwertig mit dem Ausspruch „Ideal, Ideal, Ideal, Erkenntnis, Erkenntnis, Erkenntnis, Bum-Bumm, Bum-Bumm, Bumm-Bumm“. Jeder tanze laut Tzara im Endeffekt bloß „nach seinem persönlichen Bumbumm“ und jeder hat mit seinem „Bumbumm“ auch recht.
Ziel Nr. 2: Vernichtung des Denkens und der Ethik
Also wollte er die „Gehirnschubkästen“ „zersetzen“. Die „Logik“ würde seiner Meinung nach nicht „die Wahrheit beweisen“, sie sei „eine organische Krankheit“. Die „Logik ist Komplikation. Logik ist immer falsch“, schrieb er in seinem Manifest Dada 1918. Der „Gedanke“ sei laut Tzara „ein schönes Ding für die Philosophie, aber er ist relativ“.
Und die Psychoanalyse sei nur dazu da, um die „anti-reellen Neigungen des Menschen“ einzuschläfern und die Bourgeoisie zu „systematisieren“. Tzara wollte dagegen den Kontakt der Menschen zur Realität zerstören und die Gesellschaft destabilisieren.
Deswegen forderte er „auf ewig unverständliche Werke“ – damit meinte er sinnlose Kunstwerke. Und mit dieser Forderung ist auch die gesamte Ästhetik der Avantgarde umschrieben. (In vielen späteren Beiträgen werde ich alle Details dieser Ästhetik besprechen.
Tzaras Empfehlungen: Die anstehende „große Zerstörungsarbeit“ anpacken
Tzaras Grundanliegen – sowie auch dasjenige aller Avantgardekünstler bis zum heutigen Tag – lautet: „es gibt eine große Zerstörungsarbeit. Ausfegen, säubern.“ Deswegen erklärte er lapidar, dass „jeder Mensch“ dies „schreien“ sollte. Was diese „Zerstörungsarbeit“ zu verrichten hat erklärte Tzara in einer hymnischen Passage, die wert ist komplett wiedergegeben zu werden:
„Jedes Erzeugnis des Ekels, das Negation der Familie zu werden vermag, ist Dada;
Protest mit den Fäusten, seines ganzen Wesens in Zerstörungshandlungen: Dada, (…)
Vernichtung der Logik: Dada; (…)
Vernichtung des Gedächtnisses: Dada; (…)
Vernichtung der Zukunft: Dada.“
Tristan Tzara: „Manifest Dada 1918“
Der nächste Schritt in Richtung Radikalisierung – über den Dadaismus hinaus – machten die Surrealisten. Sie koppelten den futuristisch-dadaistischen Nihilismus mit der revolutionären Technik Lenins.
Bis zum nächsten mal !